“Das Schweigen brechen” – Ein Gespräch über die Bewegung ‘Mental Health in Fashion’

© SEEK, SEEK Real Talk, Januar 2024: Fredericke Winkler (AMD), Stylist Marvin-Mario Bahome und Florian Müller über 'Mental Health in Fashion‘
© SEEK, SEEK Real Talk, Januar 2024: Fredericke Winkler (AMD), Stylist Marvin-Mario Bahome und Florian Müller über 'Mental Health in Fashion‘

In einer Welt, die sowieso schon prioritär Wert auf äußere Erscheinungen legt, bringt die Modebranche nochmal ihre ganz eigenen Herausforderungen mit sich. Besonders bei jungen Menschen kommen oft Performance-Druck, prekäre Arbeitszeiten und schlechte Bezahlung dazu… Dass das alles nicht jeder so einfach wegsteckt, hat auch Florian Müller über die letzten Jahre beobachtet und sich jetzt zur Aufgabe gemacht, unsere Branche dafür zu sensibilisieren. Mit seiner Kampagne ‘Mental Health in Fashion’ ruft der Kommunikations- und Psychologieexperte dringend dazu auf, die Stille, die um psychische Gesundheitsprobleme in der Modeindustrie herrscht, zu durchbrechen – reist durch die Welt, klärt auf, bildet Netzwerke. Wir wollten von Florian Müller wissen, wo wir in puncto Awareness stehen, was er hinter den Kulissen so alles bewegt und warum das Thema für ihn persönlich so eine große Herzensangelegenheit ist. 

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Erzählen Sie uns von ‘Mental Health in Fashion’. Was steckt dahinter?

Die Initiative ‘Mental Health in Fashion’ zielt darauf ab, das Schweigen rund um psychische Gesundheit in der Modebranche zu durchbrechen. Unser Ziel ist es, Bewusstsein und Verständnis für die vielfältigen psychischen Herausforderungen zu schaffen, mit denen Individuen in diesem dynamischen Feld konfrontiert sind – vom enormen Druck und der intensiven Konkurrenz bis hin zu unsicheren Arbeitsverhältnissen und dem Zwang, stets Trends zu setzen. Indem wir die Verbindung zwischen den Arbeitsbedingungen in der Modebranche und dem mentalen Wohlergehen beleuchten, streben wir danach, eine Kultur der Unterstützung und Offenheit zu fördern.

“Unser Ziel ist es, Bewusstsein und Verständnis für die vielfältigen psychischen Herausforderungen zu schaffen, mit denen Individuen in diesem dynamischen Feld konfrontiert sind.”

Unser Ansatz verbindet Aufklärung und Sensibilisierung, um ein Netzwerk des Verständnisses und der Hilfe zu etablieren, das nicht nur Raum zum Atmen bietet, sondern auch praktische Unterstützung leistet. Dabei adressieren wir sowohl die Auswirkungen der Branche auf die psychische Gesundheit von bereits betroffenen Personen als auch die Risiken, die durch die Arbeitsbedingungen entstehen können. Die gesamte Lieferkette wird in den Fokus gerückt, um auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Kaufverhalten, Industriestrukturen und psychischem Wohlbefinden hinzuweisen. Speziell die prekären Produktionsbedingungen von Fabrikarbeiter:innen und die propagierten Schönheitsideale der Modeindustrie können mit weiteren Faktoren zu Angsterkrankungen oder Essstörungen führen. 

Wir setzen uns für die Offenlegung schädlicher Strukturen und die Betonung der Notwendigkeit eines besseren Schutzes für Menschen mit psychischen Problemen ein, ohne dabei Einzelne zu stigmatisieren oder auszugrenzen. Ziel ist es, durch einen offenen Dialog positive Veränderungen herbeizuführen und ein unterstützendes Umfeld für die mentale Gesundheit in der Modebranche zu schaffen. Diese Bemühungen sind von entscheidender Bedeutung, da die teilweise ungesunden Signale, die die Branche in die Öffentlichkeit sendet und eine generelle Betrachtung von Modekonsum, nicht nur Menschen innerhalb, sondern auch außerhalb der Modewelt betreffen.

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Wann und wie ist die Idee erstmals entstanden und was gab Ihnen den entscheidenden Impuls ‘Mental Health in Fashion’ zu starten? 

Mein tiefgreifendes Interesse an mentaler Gesundheit wurzelt in meinem Psychologiestudium und wurde durch meine frühen Erfahrungen in der Pariser Modebranche zu Beginn der 2000er Jahre geprägt. Dort beobachtete ich, wie sich Menschen trotz niedriger Löhne oder unbezahlter Arbeit in Luxusmode kleiden konnten – sei es durch Geschenke oder erhebliche Rabatte – und diesen Status als Teil einer ‘auserwählten’ Gruppe genossen, während sie gleichzeitig Mühe hatten, ihre Grundkosten zu decken. Diese Diskrepanz zwischen Schein und Sein faszinierte mich und führte dazu, dass ich mich intensiv mit den psychologischen Hintergründen dieser Lebensweise auseinandersetzte. Viele wirkten hinter ihrer glänzenden Fassade alles andere als glücklich, was mich dazu inspirierte, meine Diplomarbeit über dieses Phänomen zu schreiben.

Über die Jahre, verstärkt durch meine psychotherapeutische Weiterbildung, wurde ich Zeuge einer Zunahme psychischer Belastungen und Krankheitsbilder in der Modebranche. Diese Erkenntnisse motivierten mich, meine Kompetenzen in klinischer Psychologie zu vertiefen und Jahre in die Entwicklung einer Kampagne zu investieren, die auf diese Probleme aufmerksam macht. Schließlich erhielt mein Engagement Anerkennung bei der Veranstaltung 'Bildung für nachhaltige Entwicklung' der UNESCO und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Deutschland, was der entscheidende Anstoß war, meine Initiative 'Mental Health in Fashion' offiziell ins Leben zu rufen.

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Sie sind mit ‘Mental Health in Fashion’ bereits um die Welt gereist. Was haben Sie dabei erlebt und wie fiel das Feedback aus? 

Tatsächlich ist meine Kampagne global zu betrachten und mir die Internationalität sehr wichtig. Neben einigen Problemen, die sich weltweit wiederholen, gibt es auch etliche regionale Unterschiede, welche Lebensrealitäten Menschen haben können. In meiner Kampagne tauchen Begrifflichkeiten wie Nachhaltigkeit, Mental Health oder Diversität auf. Spannend ist, wie unterschiedlich diese Wörter definiert werden. Wenn wir aber über Sichtbarkeit und Verständnis reden, ist es elementar wichtig, dass ich nicht nur mich selbst immer besser verstehe, sondern auch, was mein Gegenüber eigentlich braucht. So erlebte ich an einer Universität in San Francisco andere Reaktionen auf meine Kampagne als bei meinen Studierenden in Berlin, Hongkong oder Taipeh.

“Wenn wir über Sichtbarkeit und Verständnis reden, ist es elementar wichtig, dass ich nicht nur mich selbst immer besser verstehe, sondern auch, was mein Gegenüber braucht.”

Genau diese zum Teil recht konträren Reaktionen auf meine Kampagne gilt es näher zu betrachten, um einen verständnisvollen Umgang auf allen Seiten herauszuarbeiten. Wir finden in der Mode oft komplexe Lieferketten, die sich über die ganze Welt verteilen – einen Teil der Komplexität versuche ich aufzubrechen, indem ich mich mit den Menschen unterhalte, um ihre Bedürfnisse und Lebensumstände besser zu verstehen. Neben meiner Bildungsarbeit im akademischen und schulischen Bereich veranstaltete ich bereits zahlreiche Talks und Vorträge bei Modemessen wie der SEEK in Berlin, der CentreStage im Rahmen der Hong Kong Fashion Week oder der Nachhaltigkeitsplattform Green Fashion India in Nagpur. Generell sind die Reaktionen positiv, viele Menschen sind dankbar für die Offenheit und Unterstützung. 

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Wie können Unternehmer:innen und Arbeitgeber:innen in der Modebranche dazu beitragen, ein Umfeld zu schaffen, das die mentale Gesundheit fördert und unterstützt?

Indem sie ein Bewusstsein schaffen und offene Diskussionen über dieses Thema unterstützen! Arbeitgeber:innen können zum Beispiel spezifische Schulungsprogramme anbieten, die Mitarbeiter:innen befähigen, psychische Probleme zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren, idealerweise in Kooperation mit Fachexpert:innen und zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Branche. Mein Engagement mit ‘Mental Health in Fashion’ umfasst die Entwicklung solcher Programme in Partnerschaft mit Marken. Die Förderung mentaler Gesundheit ist nicht nur ethisch geboten, sondern wirkt sich auch positiv auf Produktivität und Wohlbefinden von Mitarbeitenden aus. Zudem sind flexible Arbeitsmodelle entscheidend, um Beschäftigten ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Beruf und Privatleben zu ermöglichen. Eine offene Kommunikationskultur, in der sich Angestellte frei über ihre mentale Gesundheit äußern können, ist ebenfalls essentiell. Unternehmen sollten zudem regelmäßig Feedback einholen und ihre Ansätze zur Unterstützung der mentalen Gesundheit kontinuierlich anpassen. Indem sie die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter:innen ernst nehmen und ein unterstützendes Umfeld schaffen, leisten sie einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der psychischen Gesundheit in der Modebranche.

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Besonders bei jungen Menschen ist der Performance-Druck oft extrem hoch. Wie können Newcomer:innen in der Modebranche die geforderten Leistungen bringen und dabei mental gesund bleiben?

Die Herausforderungen in der Modebranche sind nicht nur individuell, sondern auch strukturell. Deshalb plädiere ich dafür, Kompetenzen im Bereich der psychischen Gesundheit in die Ausbildung an Mode- und Designschulen einzubeziehen. Newcomer:innen sollten sich über die Erwartungen und Realitäten der Branche im Klaren sein und lernen, ihre eigenen Grenzen zu wahren. Ich rate dazu, aktiv in den Austausch mit Branchenkolleg:innen zu gehen sowie externe Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Wichtig ist, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, rechtzeitig Grenzen zu setzen und die eigenen Ziele kritisch zu reflektieren. Die Zusammenarbeit mit anderen bietet die Chance, über gängige Branchenstandards hinaus zu denken und gemeinsam für ein gesünderes Arbeitsumfeld zu sorgen. Ein starkes Bewusstsein für die eigene mentale Gesundheit und gegenseitige Unterstützung sind bedeutend, um langfristig in der Modebranche erfolgreich und zufrieden zu sein.

“Die Herausforderungen in der Modebranche sind nicht nur individuell, sondern auch strukturell. Deshalb plädiere ich dafür, Kompetenzen im Bereich der psychischen Gesundheit in die Ausbildung an Mode- und Designschulen einzubeziehen.”

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Sie arbeiten selbst seit vielen Jahren auf hohem Niveau in der Modebranche – sind also auch thematisch mittendrin. Was tun Sie, um mental gesund zu bleiben?

In meiner Karriere sah ich mich mit Herausforderungen konfrontiert, die meine mentale Gesundheit belasteten – hoher Druck, Erwartungen, ständige Deadlines und unregelmäßige Arbeitszeiten, um nur einige zu nennen. Dies schafft oft wenig Spielraum für Selbstfürsorge.

Um meine Gedanken und Gefühle zu ordnen und Stressfaktoren zu erkennen, setze ich auf regelmäßige Selbstreflexion. Trotz der Schwierigkeiten, in der Modebranche ausreichend Schlaf, gesunde Ernährung und Bewegung zu priorisieren, bemühe ich mich außerdem, meine körperliche Gesundheit so gut es geht zu pflegen – wenn das Fitnessstudio nicht möglich ist, helfen Spaziergänge, Stress abzubauen. Ein unterstützendes Netzwerk aus Familie, Freund:innen und Kolleg:innen ist für mich ebenfalls unverzichtbar, um Erfahrungen zu teilen und ein gegenseitiges Verständnis zu finden. Es ist ein ständiger Prozess, an dem ich arbeite, mit guten und schlechten Tagen, aber ich bemühe mich, achtsam mit mir umzugehen und meine mentale Gesundheit aktiv zu pflegen.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Prävention und die Behandlung einer konkreten Erkrankung zwei verschiedene Aspekte sind. Wer sich über einen längeren Zeitraum mental überfordert fühlt, sollte sich unbedingt fachliche Hilfe suchen. In diesem Fall kann im ersten Schritt der Besuch bei der Hausärztin oder dem Hausarzt ratsam sein, um organische Ursachen auszuschließen und gegebenenfalls von dort an die richtige Stelle weiterverwiesen zu werden.

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Sie beschreiben ‘Mental Health in Fashion’ als Bewegung. Wo möchten Sie mit dieser hin? Was ist Ihre Vision für die Zukunft?

Meine Vision für ‘Mental Health in Fashion’ ist es, einen nachhaltigen Wandel in der Kultur der Modebranche zu bewirken, der mentale Gesundheit ins Zentrum rückt. Ziel ist es, ein Bewusstsein zu schärfen, den Dialog über psychische Erkrankungen zu fördern und eine unterstützende Gemeinschaft zu etablieren, die Offenheit und Hilfe bietet. Ich bin im Austausch mit Forschungseinrichtungen für Studien, plane meine Schulungsprogramme weiterzuentwickeln und die Zusammenarbeit mit internationalen Modemarken sowie Events wie dem Modefilmfestival ASVOFF in Paris auszubauen. Dort kuratiere ich eine spezielle Filmkategorie zu „Mental Health in Fashion“, was die Bedeutung und Reichweite unseres Anliegens unterstreichen.

Ein weiterer Fokus liegt auf der Kooperation mit Bildungsstätten, um mentale Gesundheit stärker in die Ausbildung von Mode- und Designstudierenden zu integrieren. Das Ziel ist, dass zukünftige Generationen in der Modebranche bereits mit den notwendigen Kenntnissen und Werkzeugen ausgestattet werden, um für ihre eigene mentale Gesundheit zu sorgen.

Langfristig strebe ich einen kulturellen Wandel an, der mentale Gesundheit als tragenden Teil des Arbeitsumfeldes in der Modebranche versteht. Erste Anfragen von Marken, ihre Führungskräfte in Bezug auf psychische Erkrankungen zu schulen, bestätigen den Bedarf und das Interesse an dieser Initiative. Mein Ziel ist es, eine Branche zu gestalten, die ein unterstützendes und gesundes Umfeld für alle Beteiligten bietet, in dem sie ihr volles Potenzial entfalten können. Die Modebranche, bekannt für Trends und manchmal krankmachende Signale, kann nun wegweisend sein, indem sie für mentale Gesundheit eintritt und positive Impulse setzt.

“Mein Ziel ist es, eine Branche zu gestalten, die ein unterstützendes und gesundes Umfeld für alle Beteiligten bietet, in dem sie ihr volles Potenzial entfalten können.”
 

Über Florian Müller

Florian Müller studierte Betriebswirtschaftslehre und Psychologie in Berlin und Paris und begann seine Karriere in der PR-Branche in Paris, bevor er für den Designer Martin Margiela arbeitete. Nach seiner Rückkehr nach Berlin gründete er eine Kreativagentur, spezialisiert auf Mode, Nachhaltigkeit und mentale Gesundheit. Müller arbeitet mit Fashion-Weeks zusammen, lehrt an Universitäten und engagiert sich für psychische Gesundheit in der Modebranche.