Interview mit Magdalena Schaffrin und Max Gilgenmann, Gründer des 202030 Berlin Fashion Summits

©David Spaeth
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Zwanzig zwanzig dreißig oder twenty twenty thirty, das sind nicht nur Zahlen – Es ist ein spielerischer Hinweis auf die 'Dekade des Handels' von 2020 bis 2030.

202030 – The Berlin Fashion Summit steht für die Vision, dass ein konstruktiver aber auch radikaler weltweiter Wandel nötig ist und die Mode dabei eine (ver)führende Rolle einnehmen kann. Inhaltlich fokussiert sich der 202030 Summit dabei auf die Vernetzung der wichtigsten Akteure, dem Vermitteln eines wirklich ganzheitlichen Verständnisses von Nachhaltigkeit sowie der, auch mode-ästhetisch, ansprechenden Veranschaulichung von komplexen Fragen, Lösungsansätze und Konzepten, wie z.B. regenerativer Mode. Das hybride Format bietet Raum, die Modebranche bewegenden Themen in international besetzten Workshops zu diskutieren und Visionen zu entwickeln. Die Hauptthemenstränge sind Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Mode und Kultur sowie der Blick auf das glokale System Mode. Und auch dieses Jahr ist der Summit Teil der  Berlin Fashion Week und findet vom 15.-17. März 2022 im Metropolenhaus statt.

Wir haben die Gründer:innen der Initiative gesprochen und sie konnten uns zu Ihrer Vision, Ihren Plänen und der Vorfreude auf die Fashion Week sowie die nachhaltig-innovative Zukunft der Modebranche in Berlin und Deutschland mehr verraten.


Hallo Magdalena, hallo Max, zur kommenden Berlin Fashion Week findet erneut 202030 – The Berlin Fashion Summit statt. Woher kam die Idee solch ein Format ins Leben zu rufen?

Wir haben entsprechende Bedürfnisse im Markt gesehen und uns kam auch der Durchdringungsgrad für die kritisch-konstruktiven Stimmen der Szene noch zu schwach vor. Es gibt vereinzelt Fashion Summits, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigten oder in ihrem Namen tragen, doch am Ende des Tages sind die meisten eher von rein kommerzieller Natur und oft ohne wissenschaftliche Belege. Wir arbeiten seit über einem Jahrzehnt an der nötigen Veränderung im Denken und Handeln rund um Nachhaltigkeit in der Modeindustrie und jetzt ist der richtige Zeitpunkt um mit einem fokussierten Format wie dem 202030 – The Berlin Fashion Summit an den Start zu gehen und dabei nicht zuletzt auch Berliner Akteur*innen einen festen Platz im globalen Diskurs zu ermöglichen.

Wir haben für die nächsten Jahre noch Vieles vor, um der ganzheitlichen Nachhaltigkeit in der Mode und Textilbranche weiter auf die Sprünge zu helfen.

Mit der Pandemie wurde noch deutlicher, dass es Zeit für Veränderung und Verbesserung – auch in der Modebranche – wird. Wie verfolgt ihr das in der Modebranche? Sind bereits Änderungen/Besserungen zu erkennen eurer Meinung nach?

Ja, die Pandemie hat viele Schwachstellen unserer veralteten Systeme offengelegt und so eine Zunahme von Veränderungen - auch in der Modebranche - verursacht. Genaue Zahlen wie es sich verändert hat und ob es schon greifbare Verbesserung gab, ist meiner Ansicht noch schwer zu sagen. Insgesamt befinden wir uns in einer ganzen Dekade der Transformation und des Wandels. In allen Systemen, in denen wir uns bewegen, bemerkt man die Dringlichkeit nach Veränderungen, denn viele dieser Systeme stehen am Rande ihrer Funktionsfähigkeit. Es liegt nun an uns, die Veränderung tatsächlich als Verbesserung zu gestalten und dann ins Handeln zu kommen. Das ist tatsächlich auch ein Grund, warum wir mit 202030 – The Berlin Fashion Summit gestartet haben. Die Erfassung von dem, was Lösungen sind und auch wie diese Lösung zur tatsächlichen ganzheitlichen Verbesserung werden kann. Um es besser und nicht nur anders zu machen. Deswegen vertreten wir einen stark wissenschaftlichen basierten Ansatz.

Im Allgemeinen ist eine Besserung erkennbar und man sieht, dass die Marktdurchdringung für das Thema Nachhaltigkeit immer größer wird. Die große Frage ist hier, in Anbetracht der Szenarien um das Problem der Erderwärmung, ob es schnell genug vorantreibt oder nicht. In dem Sinne wird es erst eine relevante Verbesserung, wenn wir absehen können als globale Gesellschaft das Ziel von diesen 1,5 °C einzuhalten.

Eure Mission: Vernetzung von interaktiven Verbindungen unterschiedlicher Organe in der Modebranche, auch im Bereich Wissenschaft und Politik, um Innovation und Transformation zu stärken. Wie sieht diese Verbindung aus?

Mithilfe des 202030 Summit bringen wir unterschiedliche Disziplinen in einen Raum zusammen. Dank unseres weltweiten Netzwerkes, welches wir in den letzten 10 und mehr Jahren aufgebaut haben, können wir aus den Vollen schöpfen. Zusammen mit unseren Partnern vernetzten und inspirieren wir berlinweit, deutschlandweit und mindestens europaweit. Wir gründeten den 202030 – The Berlin Fashion Summit im Zusammenschluss mit Friederike von Wedel-Parlow vom Beneficial Design Institute (BDI) und Marte Hentschel von Sqetch. Den wissenschaftlichen Bereich deckt das BDI, die Lieferketten Sqetch und wir als Summit den Politik-, Innovations- und natürlich den Mode- und Kommunikationsbereich ab. Die Menschen bringen wir mit Masterclasses, Diskussionspanels, Dialogen, Interviews und vielem mehr zusammen. Die Anregung zu einem Miteinander und die Übersetzungsleistung ist ein Teil unserer zeitaufwendigen Arbeit, was von anderen leider viel zu oft vernachlässigt wird.

Warum ist Berlin genau der richtige Ort für Veränderung?

Berlin war und ist bis heute ein Ort für Veränderung. Man kann es sich aus der  Vergangenheit und Gegenwart aber auch mit den aktuellen Zukunftsperspektiven gut vor Augen führen, wie viel Veränderung in Berlin stattgefunden hat und es noch geben wird. Nach dem Mauerfall und mit dem vereinten Deutschland wurde das Bedürfnis nach Veränderung immer stärker öffentlich wie auch im 'underground' zelebriert. Diese Dynamik besteht bis heute: Berlin ist Dreh- und Angelpunkt für Veränderung, Innovation, Offenheit, Diversität und Verwirklichung. Hier treffen die unterschiedlichsten Menschen aus den verschiedensten Szenen aus aller Welt aufeinander, egal ob sie geflohen, zugezogen oder dort geboren sind. Der Wunsch nach Verbesserung des alltäglichen Lebens und Arbeitens sowie unseres Umgangs mit den Ressourcen unseres Planeten ist in jedem Einzelnen tief verwurzelt. Berlin ist für diese Menschen ein Schmelztiegel und diese Menschen machen den Ort so lebendig und inspirierend.

Mit dem Blick zurück auf die Mode ist Berlin schon seit mehreren Jahren ein sehr starker Inspirationsstandort für internationale Künstler:innnen und Designer:innen. Sie tauchen in die einzigartigen Szenen, Communitys und Kulturkreise ein und schöpfen umso mehr heraus und spiegeln das in ihren Werken und Leben wieder. Berlin atmet in der Modekultur und belebt diese. Die veränderte Wahrnehmung vom freien Lebensstil wird auch insbesondere durch die Berliner Clubszene zelebriert und in die Welt getragen. Beispielhaft ist sicherlich Demna Gvasalia, der seit einigen Jahren für Balenciaga arbeitet und sich viel in Berlin hat inspirieren lassen.

Von Fast Fashion zu Green Fashion. Wie können wir schnelle/kurzlebige Mode in grüne, nachhaltige Mode umwandeln? Was muss sich verändern? Und was hat sich schon verändert.

Der Weg von Fast Fashion zu Green Fashion ist komplex. Mittlerweile gibt es durch Ultra-Fast-Fashion-Unternehmen wie „Shein“ aus China noch mehr neue Trends, die noch schneller produziert und direkt vermarket werden. Bis zu 4500 neue Teile wirft der britische Ultra-Fast-Marktführer ASOS nach Angaben der amerikanischen Beratungsfirma Coresight pro Woche auf den Markt. Abseits der schlechten Arbeitsbedingungen und einem ungemein tiefen und großen Umwelt-Fußabdruck, kann man tatsächlich von den Ultra-Fast-Fashion Giganten etwas mitnehmen. Die Koordination von Logistik und Kommunikation haben ein neues Level erreicht. Die Interaktion mit den Konsument*innen geht in Echtzeit raus. Diesem Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Gunst muss sich am Ende auch die sogenannte 'Green Fashion' stellen und im Idealfall besser machen!

Der Schritt zur Green Fashion ist keine Einbahnstraße, sondern gepflastert mit Herausforderungen und Kurven. Ziel ist es sie zu professionalisieren und Nachhaltigkeit auch wirklich ganzheitlich nachhaltig zu gestalten, soweit es uns mit wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie den modernen technologischen und kulturellen Innovationen möglich ist.

Es ist ein langwieriger Prozess, der nicht 'mal eben' erreicht werden kann, sondern bei dem wir in vielen kleinen, möglichst progressiven, Schritten arbeiten müssen. Die gewählten Wege sollten stets agil und in Abstimmung mit allen relevanten Stakeholder:innen stattfinden. Der Zeitgeist und die Wahrnehmung unter Fachleuten in der Modeindustrie kommen mehr und mehr an. Jetzt schon wird nach ökologischen, sauberen und vor Allem auch transparenten Wertschöpfungsketten gestrebt und den Leuten beginnt es Spaß zu machen immer nachhaltiger zu werden und auch besser zu verstehen wie alles zusammenhängt.

Habt ihr Berliner Labels to Watch, die Nachhaltigkeit und Innovation bereits umsetzen und vorantreiben?

Ja, wir haben eine große Bandbreite, die diese Themen aufgreifen und umsetzen. Eines meiner [Max] persönlichen Lieblinge sind "Arys", "Buki Akomolafe" oder „Fade Out Label“ — aber auch technisch-orientierte Fashion Start-Ups wie „Kleiderly“ oder die Marke, „Yoona“ oder Plattformen wie "Folkdays" oder "Staiy" sind super spannende Berliner Akteure die sehr nachhaltig-innovativ arbeiten.

Bei dem diesjährigen Summit geht es bei euch wieder um lokale, globale und glokale Perspektiven, aber diesmal mit dem Fokus auf eine regenerative Zukunft. Gibt es schon Informationen zu den diesjährigen RednerInnen? Wer wird diese Saison dabei sein?

Für den diesjährigen 202030 – The Berlin Fashion Summit konnten wir wieder eine spannende Mischung aus Berliner, deutschen, europäischen und internationalen Sprecher:innen gewinnen. So starten wir den Summit am 15.03. um 15 Uhr mit einer Keynote von Claire Bergkamp, COO bei der internationalen NGO Textile Exchange und präsentieren über die drei Tage konstruktive und kritische Beiträge von wichtigen Akteuren wie Aras Baskauskas (Christy Dawn), Christian Dietrich (Sfeeri), Daniel Ruben (Kornit Digital), Prof. Dilys Williams (Centre for Sustainable Fashion beim London College of Fashion), Ina Budde (circular.fashion), Ingo Strube (BMUV) Kevin Thiong'o (Enviu), Lisa Jasper (Folkdays) Marije Slump (Ministerium für Infrastruktur und Wasserwirtschaft der Niederlande) oder Renana Krebs (Gründerin Alga Life) uvm!

Diese Woche veröffentlichen wir das vollständige Programm mit allen Sprecher:innen und Stakeholder:innen.

Könnt ihr uns schon ein paar Einblicke zu weiteren Themen und Schwerpunkten geben?

Grundsätzlich hat Entwicklung für uns einen hohen Stellenwert. Wir geben eine ganzheitliche Darstellung, was es wirklich bedeutet sich mit voller Tatkraft um Nachhaltigkeit zu kümmern.

Die Mode- und Textilthemen rund um Kreislaufwirtschaft, was mehr und mehr auch in der Industrie und der EU progressiven Anklang erfährt, fordert von unserer Seite den Blick stets nach vorn — wir werden weiter konstruktive und kritische Diskurse ermöglichen um die Themen- und Handlungsfelder voran zu entwickelt und wirklich ganzheitliche Nachhaltigkeit als Standard zu etablieren. Die Dringlichkeit bis 2030 eine Veränderung in die wirtschaftlichen Kreisläufe zu bringen, bestätigen eine überwältigende Bandbreite von Wissenschaftlern. Doch alleine die Verbesserung in der Kreislaufwirtschaft wird womöglich nicht mehr reichen um das Klimaziel oder die schon eintretenden Folgen der Klimaerwärmung aufzuhalten, damit wir noch ein bisschen länger ein angenehmes/schönes Leben auf dem Planeten haben können.

Daher liegt der aktuelle Schwerpunkt des 202030 Summit darauf zu evaluieren und zu diskutieren wie ein regeneratives Modesystem aussehen kann. Wir betrachten und analysieren das System Mode dabei auf unterschiedlichen Weisen: einerseits nehmen wir explizit die globale und lokale Perspektiven ein und andererseits betrachten wir mögliche Lösungsansätze immer aus der kulturellen, ökonomischen sowie der Produkt-Perspektive — das ist wichtig um eine Lösung auch als tatsächliche Verbesserung für alle Beteiligten zu gestalten.

Wir gehen hierbei methodisch heran. Der vorab in sogenannten Pop Up Think Tanks, einem intensiven Workshop-Programm mit internationalen Expert*innen, abgehalten wird. Dieser ist nicht öffentlich und dient als vertrauensvoller Raum für konstruktiv-kritische Debatten zwischen Expert*innen und Pionieren, um den öffentlichen Summit qualitativ hochwertig und mit klaren Botschaften aufzubereiten.

Was ist das Ziel von 202030 – The Berlin Fashion Summit?

Unser Ziel ist es bis 2030 ein guter, progressiver, konstruktiver und kritischer Vernetzer und Begleiter zu sein. Wir unterstützen die Entwicklungen in der Textil- und Modeindustrie — vor allem im deutschsprachigen Raum — setzen sie ins Verhältnis mit globalen und europäischen Rahmenbedingungen und treiben den Austausch zwischen den relevanten Stakeholder:innen voran. Das erklärte Ziel der Modeindustrie muss aus unserer Sicht sein, dass sie sich bis 2030 von ihrem vielfältigen negativen Nebenwirkungen verabschiedet und im Gegenteil zu einem Vorbild für eine Industrie mit 'Positive Impact' wird.

Schön wäre es, wenn wir uns dann im ersten Quartal 2031 zum vorerst letzten 202030 – The Berlin Fashion Summit treffen, wo wir eine positive Abrechnung vollziehen können.

Und nach der Berlin Fashion Week – seit ihr da auch aktiv und tragt das Thema weiter? Wenn ja wie?

Wir sind immer aktiv, bei uns gibt es kein wirkliches vorher oder nachher. Auch wenn die Fashion Week in den letzten 10 Jahren natürliche eine relevante Rolle für unseren Arbeitsrhythmus gespielt hat. Wir tragen das Thema jeden Tag mit unserer Agentur studio MM04 weiter, mit der wir Strategie- und Kommunikationsberatung insbesondere für die Modeindustrie anbieten. Zudem bauen wir jetzt, im Auftrag des Senates für Wirtschaft, Energie und Betriebe, den ersten Berliner Fashion Hub auf. Zusammen mit unseren Konsortialpartnern Sqetch und Belius haben wir eine Ausschreibung gewonnen und arbeiten seit Dezember letzten Jahres am Aufbau. In den nächsten Wochen gibt es hierzu dann mehr Informationen rund um die ersten Programme und Partnerschaften.

Gibt es auf der diesjährigen Fashion Week in Berlin noch weitere Veranstaltungen, Designer, Workshops oder Diskurse, auf die ihr euch am meisten freut?

Wir freuen uns natürlich dieses Mal nicht nur digital, sondern auch hybrid wieder mit dabei zu sein und neben dem Fashion Open Studio am gleichen Standort mitwirken zu können. Zudem sind wir natürlich neugierig welche neuen Designer und kulturellen Trends auf der Fashion Week präsentiert werden, welche Gespräche sich bei den vielen Events ergeben und freuen uns auch insbesondere auf die Aktionen und Abendveranstaltungen des Fashion Council Germany.

Was macht eurer Meinung nach Berlin als Modestandort aus?

Berlin ist als Inspirationsquelle, das richtige Pflaster, allein schon durch seine komplexen geschichtlichen, kulturellen und sozialen Verstrickungen. Der Wunsch nach Verwirklichung und Freiheit spricht Bände. Und das sieht man auch in der Mode, die aus Berlin hervorgeht. Da Mode das Ventil von der vorhin gesprochenen Freiheit und Inspiration braucht, kann Berlin nicht idealer als Modestandort sein.


Alle Events 202030 Summit werden demnächst im offiziellen Kalender der Berliner Fashion Week 2022 veröffentlicht. Um nichts zu verpassen, schaut bei @202030summit oder @berlinfashionwe auf Instagram vorbei.